Was können wir von den bisherigen Anstrengungen lernen? Resumée der zweiten Gesprächsrunde
Der Kurzdarstellung der auf dem Podium versammelten Initiativen anhand ihrer besonderen Kennzeichen, Ziele und Erfolge folgte eine zweite Befragungsrunde, die sich unter der Fragestellung zusammenfassen lässt: Was braucht es, damit die Anstrengungen gelingen, die Situationen der Betroffenen und derjenigen, die sie begleiten, mit Engagement zu verbessern?
Ein besseres Leben mit Demenz braucht zivilgesellschaftliches Engagement
In den Beiträgen lag ein starker Akzent auf dem Thema Ehrenamt. Doch Verena Rothe brachte es für Aktion Demenz auf den Punkt: Bürgerschaftliches Engagement ist weit mehr als ehrenamtliche Tätigkeit - so wichtig diese auch ist! Bürgerschaftliches Engagement meint „die vielen kleinen Dinge", (Rothe) die sich zu der gelebten Haltung addieren, dass Menschen mit Demenz dazugehören. Ein besseres Leben mit Demenz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe: das reicht von der „übergeordneten" gesellschaftlichen Ebene mit ihren herrschenden Bildern, Werten und Einstellungen bis in den konkreten Alltag jedes Einzelnen hinein. Bürgerschaftliches Engagement beginnt im eigenen Viertel, am eigenen Lebensort.
Ehrenamtliches Engagement muss durch entsprechende Rahmenbedingungen abgesichert sein
Für die von politischer Seite getragenen bzw. gestützten Initiativen machte H. Dressino klar, dass bestimmte Voraussetzungen gegeben und geklärt sein müssen, sofern Engagement nicht enttäuscht (und damit nachhaltig verhindert!) werden soll. Die von verantwortlicher Seite zu sichernden Rahmenbedingungen betreffen das Thema Finanzierung, den strukturellen Rahmen sowie die Sorge für das Weiterleben eines Projekts oder einer Initiative in der einen oder anderen Form. Für die Initiative in Rheinland-Pfalz verwies Frau Dressino darauf, dass bei ca. 70 000 Menschen in den mittleren bis weit fortgeschrittenen Stadien einer Demenz im Lande und ca. 11 000 jährlich neu hinzukommenden Erkrankungen „die Nachhaltigkeit unmittelbar gegeben" sei - d.h. man könne gar nicht umhin, weiter an der Thematik zu arbeiten. Als A und O sieht Dressino eine gute Öffentlichkeitsarbeit sowie die Arbeit mit Netzwerken. Exemplarisch konnte die auf das Beispiel des Engagements von A. Kynast verweisen, die ihre Erfahrungen und das Thema Frühdiagnostik nach ihrem Schottland-Aufenthalt in die regionale Pflegekonferenz (die es überall in Rheinland-Pfalz gibt) einbringt und so dafür sorgt, dass ihre Erfahrungen und ihr eigener Erkenntnisgewinn weitere Kreise zieht.
Bürgerschaftliches Engagement macht Aushandlungsprozesse erforderlich, insbesondere die Formulierung und Einhaltung von Spielregeln und ein Miteinander „auf Augenhöhe".
Intensiv wurde über das Miteinander von Ehrenamt und professioneller Arbeit diskutiert. Für C. Niederleitner ist klar, dass hauptamtlich Tätige die Aufgabe übernehmen müssen, Dinge anzustoßen, für Engagement zu werben und Freiwillige zu befähigen (nicht nur, aber auch durch Qualifizierungsangebote). Sie betonte, wie wichtig es ist, dass eine Initiative einen zentralen Anlaufpunkt bzw. Koordinator hat, der/die den Überblick über die einzelnen Aktionen und den Stand der Dinge hat. Anhand des Projekts „Demenzpaten" erläuterte sie den Bedarf der „Paten", sich über die Dinge, die sie erleben und mit denen sie sich im Zuge ihrer Tätigkeit auseinandersetzen müssen, in geeigneter Form auszutauschen und bei der hauptamtlichen Koordination entsprechenden Rückhalt zu finden. Damit ein solches Projekt ein Erfolg werden kann, sei die Erstellung eines klaren Konzepts und die Klärung der Rahmenbedingungen unabdingbar. Auch müsse die Frage der Leitung geklärt und zumindest für die Initialphase eine hauptamtliche Unterstützung gewährleistet sein.
Am Beispiel Augsburg hob Niederleitner außerdem die Bedeutsamkeit der Unterstützung bürgerschaftlichen/ehrenamtlichen Engagements seitens der Verwaltung hervor - bürgerschaftliches Engagement müsse in einer Kommune gewollt und gewünscht sein (auch dann, wenn es mitunter durchaus eigensinnig daherkommt!)
Kann man Politik und Verwaltung zu diesem Wollen verhelfen?
Zumindest hoffe er dies, so der Vertreter des Arnsberger Projekts M. Polenz. Eine entsprechende zivilgesellschaftliche Haltung und Bereitschaft auf Seiten von Politik und Verwaltung sei eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für erfolgreiches Handeln - ebenso wichtig seien Menschen, die bereit seien, sich zu engagieren. Mit Blick auf das Miteinander der beiden Seiten bzw. Partner tritt die gleichberechtigte Begegnung und Kommunikation miteinander „auf Augenhöhe" als weitere unverzichtbare Voraussetzung hinzu.
In diesem Miteinander wurde den hauptamtlich Tätigen eine besondere Rolle attestiert. Sie können bestimmte „Spielregeln" (z.B. „ein Miteinander mit den Ehrenamtlichen auf Augenhöhe") formulieren bzw. den Institutionen verdeutlichen oder bei der Findung/Festsetzung solcher Regeln des Umgangs miteinander vermitteln. Den Verweis auf mögliche Gefahren eines zu starken Managements aufgreifend wurde argumentiert, dass der Dialog, das kommunikative Miteinander dazu angetan sei, solche Gefahren auszuräumen. Es sei wesentlich, die Erfahrungen, Erwartungen und Wünsche der Beteiligten abzufragen und entsprechend zu berücksichtigen.
Claudia Bayer-Feldmann betonte, dass die Sorge um Menschen mit Demenz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei. Mit Blick in die Runde stellte sie fest, dass sie wahrscheinlich die einzige Vertreterin der ehrenamtlich Tätigen auf dem Podium sei (sie hatte die Münchener Kampagne ehrenamtlich koordiniert). Ihr starkes Votum ging dahin, dass es wichtig sei, im Miteinander von professionell und ehrenamtlich Tätigen über Rollen zu sprechen. Ein wichtiger Hinweis war hier auch, dass bürgerschaftlich Engagierte durchaus unterschiedliche Rollen übernehmen können, die sich keineswegs im Bereich der Betreuung erschöpfen. Wesentlich sei, in konkreten Vorhaben auf kommunaler Ebene darüber nachzudenken, wie sich Haupt- und Ehrenamt, professionelles Tun und bürgerschaftliches Engagement gewinnbringend miteinander verbinden lässt.
Die Begleitung von Menschen mit Demenz im Spannungsfeld von Markt, Wettbewerb und zivilgesellschaftlichem Engagement
N. Schnetzer erinnerte an das bestehende Nebeneinander von unentgeltlich arbeitenden Ehrenamtlichen, vergleichsweise gut bezahlten Professionellen und einem sich ausbreitenden Niedriglohnbereich in der Pflege -eine Problematik, die nicht ausgeblendet werden dürfe. Hier müsse man sehr offen und ehrlich miteinander umgehen, gut überlegen, was man tue und wer was tue. Hier sei insbesondere die Politik gefragt. Ein kritischer Umgang mit dem eigenen Tun sei erforderlich, nicht zuletzt, um zu verhindern, dass Erreichtes nicht wieder zunichte gemacht werde.
G. Beck stimmte zu, dass dies sicher ein „heißes Thema" sei und unterstrich, dass es gelte, die Entwicklung von „Märkten" sehr genau zu beobachten (aktuell etwa im Bereich der niedrigschwelligen Betreuungsdienste). Sie verwies nochmals auf die Bedeutung hauptamtlich Tätiger insbesondere im Bereich der Planung und Steuerung auf der kommunalen Ebene.
Für das Ehrenamt unterstrich sie, dass es ehrenamtlich Tätigen nicht primär um den monetären Aspekt gehe, sondern die Gratifikationen und der Gewinn ein anderer sei (vgl. hierzu auch die Ausführung von M. Bylow-Schiele in „Hinhören - Stimmen aus der Gesellschaft"). Gabriele Beck gestand dem bürgerschaftlichen und insbesondere dem ehrenamtlichen Engagement eine besondere Stellung bzw. Rolle zu, da es hier nicht um eine (marktförmig erbrachte) Dienstleistung gehe, sondern darüber hinaus um menschlichen Kontakt. Sie unterstrich, dass ehrenamtliche Arbeit eine gute Vorbereitung und eine qualifizierte hauptamtliche Begleitung erfordere, die strukturell gewährleistet sein müsse und warnte davor, die Bedeutsamkeit der Thematik insgesamt auf den Aspekt der Entlohnung zu reduzieren. Im Unterschied zu professionell Tätigen könnten freiwillig/ehrenamtlich Tätige selbst bestimmen, wann, wie oft und wie sie sich in die Unterstützung und Begleitung von Menschen mit Demenz einbringen möchten. Ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement gehe weit über das hinaus, was eine Dienstleistung abdecke - hier seien andere Qualitäten von Kontakt und Begegnung zu beachten.
Der Lebenswelt ihren Eigensinn zugestehen
Stefan Kleinstück erinnerte an die zahlreichen existierenden informellen Strukturen und Netzwerke. Viel Beifall erhielt er für sein Plädoyer, diese vor den Allmachtsphantasien bestimmter Planer zu schützen und ihnen mit ihrem Eigensinn und Eigenleben „Luft" einzuräumen.
Lernen vom Blick über den eigenen Gartenzaun - das Beispiel Schottland
Große Aufmerksamkeit fand auch das Beispiel Schottland und Andrea Kynasts Erfahrungsbericht über ihre Hospitationen bei der Scottish Dementia Working Group (SDWG). Die Gruppe arbeitet in enger Verbindung mit der nationalen Alzheimer Gesellschaft und der Organisation Comic Relief (die eine Anschubfinanzierung beisteuert) - durch diese beiden Organisationen konnten zwei professionelle Mitarbeiter für die Unterstützung der Gruppe finanziert werden. Auch in Schottland ist die Finanzierung solcher Projekte nicht auf Dauer gestellt, aber es gibt eine andere Tradition des Umgangs mit Sponsoring. A. Kynast berichtete, dass sich die lokale Working Group in Aberdeen in einem von der BBC und einer Lotteriegesellschaft ausgeschriebenen Wettbewerb 500 000 GBP für einen Projektvorschlag sichern konnte. Hiervon werden u.a. hauptamtliche Stellen gesichert und bestimmte Vorhaben finanziert - so etwa die Aufarbeitung schwieriger Situationen, in diesem Fall die Diagnosestellung, durch eine Theatergruppe. Erfahrungen bestätigen die besondere Bedeutsamkeit und Brisanz der Diagnosestellung - wie sie konkret erfolgt und welche tief greifenden Veränderungen auch im zwischenmenschlichen Umgang sie auslöst, wird von Betroffenen oftmals als entwürdigend und nicht hinnehmbar empfunden und beschrieben (oftmals wird von diesem Moment an nicht mehr „auf Augenhöhe" kommuniziert, sondern über die Köpfe der Betroffenen hinweg mit den Angehörigen). Ein Teil des gewonnenen Geldes wird darauf verwendet, diese schwierige Situation mit der Drama Group in Rollenspielen aufzuarbeiten. In einer Zusammenarbeit von Betroffenen, Medizinern und Angehörigen soll u. a. ein Film entstehen, der verdeutlicht, was in der Kommunikationssituation Diagnosestellung zu beachten ist und der an medizinischen Hochschulen und Fortbildungsstätten für Allgemeinmediziner eingesetzt werden soll.
Von Seiten der Moderation wurde das Thema Frühdiagnostik kritisch nachgefragt - könnte es nicht sein, dass dies der „Sortierung" und einer Zuführung der Betroffene zu bestimmten Profigruppen dient? Nach der Diagnose ist man Patient - der Professionelle weiß, was gut ist für den Patienten. Wie kann das „ernst nehmen", der partnerschaftliche Umgang mit den Betroffenen gelingen?
Demenz und Zivilgesellschaft: „Wir sind auf dem Weg" ....
Helga Schneider-Schelte verwies auf die inzwischen 1,1 Millionen Betroffenen in der Bundesrepublik und ihre Erfahrung im Rahmen ihrer Tätigkeit für die deutsche Alzheimer-Gesellschaft, wie viele Menschen tatsächlich bereits Kontakt zu Betroffenen haben. Das Thema berührt im Alltag bereits sehr viele Menschen und erfährt derzeit eine neue Qualität im Hinblick auf seine Ausstrahlung - es findet mehr Auseinandersetzung statt; es finden sich Ansätze zu einer „Normalisierung" und stärkeren Einbeziehung der Betroffenen wie etwa am Beispiel des Angebots der Tanzschule. Das Beispiel des Theaterprojekts in Moers deutet darauf hin, dass auch kulturelle Institutionen damit beginnen, das Thema aufzugreifen und sich dafür zuständig zu sehen, Veränderungsimpulse in die Zivilgesellschaft hineinzutragen. H. Schneider-Schelte: „Wir fangen an, das rein defizitorientierte Bild zu verändern, Wir lernen, Menschen mit dem zu schätzen, was sie können."
Die Moderation fragte nach den gleichzeitig gegebenen Gefahren - Menschen mit Demenz sind eine verwundbare Gruppe und es besteht die Gefahr im Laufe sich verschärfender Verteilungskämpfe, dass sie zum Kristallisationspunkt aller möglichen Aggressionen werden können. Was kann vorbeugend getan werden?
Martin Polenz meint, eine wichtige Möglichkeit sei es, Menschen mit Demenz kennen zu lernen. Sein Plädoyer ging in Richtung einer stärkeren Öffnung der Einrichtungen für das Gemeinwesen. Stefan Kleinstück unterstützt das Lernen vom Beispiel Schottland - das Fehlen von Demenz-Aktivisten in Deutschland. Andere Länder, insbesondere im angloamerikanischen Raum, sind hier etwas weiter, weil sie nicht nur reden, sondern tun. Wir sollten, und hierfür gab es Sonderbeifall, nicht nur reden, sondern es auch tun: Menschen mit Demenz in solche Auseinandersetzungen einbeziehen.
Wie lässt sich einer Feigenblattfunktion vorbeugen?
Stefan Kleinstück: Das ist eine Frage der Einstellung, hat sehr viel mit Vorstellungen im eigenen Kopf zu tun. Mit Blick zurück auf die Jahrestagung der Deutschen Alzheimer Gesellschaft in Erfurt, deren Eröffnungsbeitrag als Zwiegespräch zwischen einem Mediziner und einem Betroffenen gestaltet war und von dem die Botschaft ausging „Es gibt ein Leben nach der Diagnose" können wir vorsichtig optimistisch sagen: Ja, wir sind auf dem Weg, auch wenn der Prozess später angefangen hat!